Autor / Illustrator: | John Boyne, Oliver Jeffers |
Seitenzahl: | 287 |
Erscheinungsjahr / Verlag: | Fischer KJB, Frankfurt/Main 2015 |
ISBN: | 978-3-596-81193-9 |
Preis: | 7,99 |
Genre: | Fantastische Erzählung |
Thema: | Familie Behinderung Abenteuer |
Zielgruppe: | Büchereigrundstock |
Eleanor und Alistair Brocket haben sich nie etwas anderes gewünscht, als ein normales Leben zu führen. Dieser Traum erfüllt sich mit der Geburt ihrer beiden Kinder Henry und Melanie - als eine normale Familie tun sie alles, um nicht aufzufallen. Mit Barnabys Geburt wird plötzlich alles anders, denn Barnaby gehorcht nicht dem Gesetz der Schwerkraft, er schwebt. Nach acht Jahren Kampf um Rückkehr zur Normalität wagen die Eltern einen entscheidenden Schritt - Barnabys abenteuerliche Reise beginnt. |
Eleanor und Alistair Brocket grenzen sich durch ihr Verhalten und ihre Einstellungen deutlich von ihren Mitmenschen ab, obwohl sie sich beide als ‚normal' bezeichnen und klare Vorstellungen von dieser ‚Normalität' haben. Schon früh erkennen sie, dass sie nur mit einem Menschen zusammen leben können, der genau ihrem eigenen Wesen und ihrer Vision von Normalität entspricht. Dass beide zueinander finden, ist sicherlich kein Zufall, sondern eher als Zusammentreffen von zwei Außenseitern zu bezeichnen. Sie bauen sich eine rosarote Scheinwelt auf, die keinerlei Störungen nach außen, aber auch nicht nach innen zulässt. Henry und Melanie, die beiden älteren Kinder, passen - jedenfalls im Kindesalter - genau in dieses Schema.
Die Situation, ein Kind zu haben, das nicht nach ihren Vorstellungen geraten ist, konfrontiert beide Eltern mit dem enggefassten Rahmen ihrer Normalität. Während Alistair nach ‚Arrangements' mit der neuen Situation sucht, indem er Matratzen an die Decke nagelt, um Barnaby vor Verletzungen zu schützen, verweigert die Mutter jegliche Offenheit und Liebe ihrem Jüngsten gegenüber. Für sie wäre die vollständige Isolation des Kindes gegenüber den Nachbarn oder der Öffentlichkeit die einzig denkbare und akzeptable Lösung. Sie muss aber bald einsehen, dass dies nicht geht. Versuche, Barnaby ins gesellschaftliche Leben zu integrieren, sind halbherzig und einzig allein der Angst geschuldet, dass man ihnen als Eltern Vernachlässigung des Kindes vorwerfern könnte.
In der völlig verwahrlosten und heruntergekommenen ‚Ultimativen Akademie für unerwünschte Kinder' lernt Barnaby seinen ersten und besten Freund kennen, Liam, der von Geburt an keine Hände hat und als deren Ersatz Haken trägt. Beim Brand der Schule rettet Liam Barnaby, der hilflos an einen Stuhl gefesselt im brennenden Klassenzimmer zurückgelassen wurde, mit diesen Haken das Leben.
Nachdem Barnaby unbeabsichtigt mehrfach ‚öffentliches Interesse' geweckt hat, entscheiden sich die Eltern, Barnaby ‚entschweben' zu lassen. Den Geschwistern Henry und Melanie, die sich über das Verschwinden ihres kleinen Bruders große Sorgen machen, erklären Eleanor und Alistair, dass Barnaby das ‚Unglück' selbst verschuldet hätte. Diese falschen Schuldzuweisungen und Lügen halten sie viele Monate aufrecht. Als Postkarten von Barnaby eintreffen, werden diese sofort entsorgt und nur durch Zufall erfahren Henry und Melanie, dass ihr Bruder noch lebt und alles versucht, um wieder nach Hause zu gelangen. Diese gestaltet sich für den kleinen Jungen sehr abenteuerlich und gefährlich, er findet viele nette Leute, die wie er selbst anders als ‚normale Menschen' sind, die sich mit ihrem Schicksal arrangiert haben und anderen Menschen Gutes tun.
Letztendlich gelangt Barnaby in zweifacher Hinsicht an sein Ziel: Er entkommt der Fremdbestimmung durch seine Eltern, die noch immer seine ‚Normalität' einfordern, und er bleibt, wie er ist - aber dieses Mal ist er nicht allein, sondern Captain W.E. Johns, dessen Stammbaum viele Hunderassen aufzeigen könnte, macht das, wonach er sich in den vielen Monaten der Trennung sehnte - er bleibt seinem Herrchen treu und folgt ihm.
Auch wenn die vielen Überraschungen, die Barnaby widerfahren, zum Schmunzeln bewegen, bleibt doch die Botschaft klar: Mit welchem Recht definiert der Einzelne und die Gesellschaft das Normale, wie weit gehen Menschen, um in dem gesellschaftlich ‚Normalen' zu bleiben? Auch wenn die Hintergründe für das Verhalten der Eltern erklärt werden, so ist für den (erwachsenen) Leser eine solche Form der Lieblosigkeit, der psychischen wie auch physischen Misshandlung des eigenen Kindes weder nachvollziehbar noch akzeptabel. Während die Geschwister sowie fremde Menschen für Barnabys Besonderheit offen sind und nach Lösungen suchen, die ihm die Integration erleichtern, bleiben die Eltern in ihren alten Schemata verhaftet und erkennen ihr Fehlverhalten nicht. Dass sie gleichzeitig Henry und Melanie in große Gewissenskonflikte bringen, das Lügengerüst der Eltern glauben zu müssen, um nicht ihr Vertrauen in die Eltern zu verlieren, kann man als Leser gut nachvollziehen. Am Ende siegt der Glaube an die Selbstbestimmung des Menschen - auch wenn er in der heutigen Zeit - angesichts der vielen wissenschaftlichen Möglichkeiten, ‚normal' zu werden - fast märchenhaft erscheinen mag.
Der Autor hat viele Facetten des ‚Anderssein' in seinem Buch zum Ausdruck gebracht und in der Zeichnung dieser Charakter deutlich gemacht, dass deren Offenheit Freiräume schafft, die denen verblockt sind, die sich an Normen orientieren und in diesen denken. Auch wenn es sich um ein Jugendbuch handelt, so ergeben sich für den jugendlichen Leser viele Fragen, die Unterstützung beim Verstehen der Botschaft dieses Buch benötigen. Er sollte damit nicht alleine gelassen werden, zumal auch das Ende, wenngleich es positiv klingt, vielseitig interpretierbar ist - immerhin gibt Barnaby all das auf, wonach er sich in seinen vielen Abenteuern gesehnt hat: die Rückkehr in die Familie, obwohl er bei seinen Eltern weder Verständnis noch Rückhalt gefunden hat. Es ist ein gelungenes Buch, das Diskussionsmaterial über die Selbstbestimmung in Hülle und Fülle bietet - sowohl für jüngere als auch für ältere Leser.