1. Stunde? Freitags? Grundschule? Ist da denn überhaupt noch jemand motiviert?
Aber hallo! Hier sind sogar Kinder voller Elan dabei, die sich sonst nicht sehr um Bücher reißen, schließlich handelt es sich um die erste Stunde der Fußball-Lesewerkstatt, die sich von Februar bis Juli und sogar darüber hinaus lesend auf das sportliche Großereignis des Jahres 2014 vorbereiten will: die Weltmeisterschaft in Brasilien.
Gestartet wird mit Aufwärmtraining. Lockerungsübungen zu einem afrikanischen Fußball-Song. Die WM ist ein multikulturelles Fest, da gehört tänzerische Leichtigkeit einfach dazu. Das bringt Schwung ins Klassenzimmer – und powered die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer im genau richtigen Maße aus. Die Choreographie kapieren alle in 0,Nix. Mit allgemeinem Jubel und hoch gerissenen Armen endet unser Einstimmungstanz, und außer Puste und bester Laune sinken alle auf ihre Plätze. Doch dann heißt es: Aufstellen zur Nationalhymne! Ein Moment der Einkehr, des Respekts, des inneren Versprechens, fair zu spielen – und auch ein Moment des Zusammenhalts. Viele Kinder legen sich die Arme um die Schultern – und sind dann verblüfft, dass keine ihnen vertraute Melodie erklingt. Es war ja auch keine Rede davon, dass sie sich zur deutschen Nationalhymne aufstellen sollten. Die Fußball-WM ist ein Fest der Nationen. Kinder auf der ganzen Welt spielen Fußball, im Fußball ist nicht einer der Held, sondern das ganze Team. Das zeichnet die Geschichten, die sich um das begehrte Leder drehen vor all den vielen Stories für Kinder aus, in denen nur einer Super-Junge, nur eine Mega-Mädchen ist.
Und so steht in einer Fußball-WM-Lesewerkstatt eben auch nicht nur ein Land im Mittelpunkt des Geschehens. Gerade jedenfalls zollen wir der Hymne von Tansania unseren Respekt.
Wieso gerade Tansania? Die sind doch nicht mal WM-Teilnehmer! Aber unsere erste Geschichte spielt dort. Hermann Schulz’ humorvoll rührender, dabei überaus klar schildernder Kinderroman MANDELA UND NELSON um ein tansanisches Geschwisterpärchen, das eine Leidenschaft teilt: Fußballspielen.
Die lesenden und lauschenden Kinder merken sehr schnell, dass es bei Nelson und Mandela anders zugeht als bei ihnen. Vergleiche werden schnell und ohne meine Aufforderung gezogen. Nelson, der schon seit Jahren von neuen Turnschuhen träumt – an Fußballschuhe gar nicht zu denken wagt. In unserem kleinen Ort hier ist Co-Trainer Hansi Flick zuhause und besitzt einen Sportbekleidungsladen, in dem jeder meiner jungen Teilnehmer regelmäßig neu eingedeckt wird. Die Kinder lachen über die Fischernetze, aus denen Mandela ein Tor baut, sie lachen über die Kühe, die während eines Spiels über den Platz getrampelt kommen, sie staunen darüber, dass die Kids in Tansania noch abends barfuß am Strand kicken dürfen und sie beginnen Nelson zu beneiden, dessen Papa nach seiner Kündigung als Hotelangestellter einen eigenen Schlangenzoo eröffnet...
„Die sind doch gar nicht arm”, meint ein Junge zögernd.
Ein halbes Jahr lang lesen wir mit wahrhaft wachsender Begeisterung in unserer Fußball-Lesewerkstatt. Ich lese vor. Wir lesen gemeinsam. Wir lesen Bücher, Tabellen, Interviews, Karten, Zeitungsartikel... Die Kinder erstellen sich mit Arbeitsblättern eine eigene WM-Mappe. Sehr schnell merke ich, dass etwas passiert, das noch in keiner anderen Lesewerkstatt passiert ist: die Papas zuhause... lesen... mit! Und zwar aufmerksam. Die bemerken jeden Fehler, der mir in den Tabellen unterlaufen ist. Da hab ich zum Beispiel einen afrikanischen Teilnehmer nicht aufgelistet. Noch schlimmer: ich habe ausgerechnet Italien einen WM-Titel aberkannt – und das zugunsten von Spanien... Was lernen wir daraus? Aufmerksames Lesen lohnt sich. Und vor allem sollte man nicht alles unhinterfragt glauben, selbst wenn es Schwarz auf Weiß gedruckt ist.
Ein Siebenjähriger studiert die Tabelle, in der aufgelistet ist, wann wo eine WM stattgefunden hat und wer jeweils Sieger wurde. Dann wundert er sich: „Warum ist das letzte Kästchen leer?”
Ein Älterer erklärt sofort: „In der letzten Reihe steht doch 2014 / Brasilien / ________ Da muss natürlich das Land eingetragen werden, dass dieses Jahr gewinnt, und das weiß doch jetzt noch nicht mal die Frau Keller.”
Stimmt, das weiß ich noch nicht. Da müssen wir allesamt noch ein bisschen warten. „Bis 13. Juli!” ruft ein Zweitklässler, der schon einen Spielplan dabei hat.
Wir sind eine Lese-Werkstatt. Da darf es auch mal lauter zugehen, alle lesen durcheinander, diskutieren. Von mir aus. Kaum ein schöneres Geräusch auf der Welt als munter lesende Kinder, oder?
Tabellen, die Weltkarte und Zeitungsartikel werden lautstark kommentiert. Über Eymard Toledos wunderschönem Bilderbuch BENÉ, SCHNELLER ALS DAS SCHNELLSTE HUHN versinken die Kinder plappernd, plappernd, plappernd. Sie sind von den Illustrationen und den dafür verwendeten Materialien völlig fasziniert, so dass wir eine Kreativstunde einlegen und Tuledos Werk einfach fortsetzen. Gar nicht so einfach. Und beim Schaffen kommt den Kindern, wie schwer es für Bené sein muss, Fußbälle in vielen Schritten selber zu fertigen. Und wieder wird gedacht, geredet, erzählt.
Wenn es im Roman weitergeht, sind alle aufmerksam und freudig gespannt dabei. Von Unruhe keine Spur. Fast alle Teilnehmer besorgen sich den 2. Band unserer Geschichte, Hermann Schulz’ MANDELA UND NELSON – DAS RÜCKSPIEL, und berichten mir aufgeregt von ihren Leseerfahrungen zuhause. So war’s gedacht. Wenn ich den Kindern Berichte vorlege aus ZEIT LEO oder GEOLINO EXTRA, lesen selbst die Jüngsten eifrig mit vor. Das sind Textumfänge, die sie auch schon bewältigen können. Bei den fantastischen Lebensgeschichten berühmter Spieler wie Pelé, Garrincha oder Lionel Messi aus dem großartigen Buch ZUCKERPASS UND BLUTGRÄTSCHE. WAHRE GESCHICHTEN RUND UM DEN FUSSBALL herrscht im Klassenzimmer atemlose Stille. Kein Wunder. Der Autor Christian Eichler versteht, in schlichten und gut verständlichen Worten rührende Schicksale zu berichten.
„Ich sehe deine Lesewerkstatt ... als eine wirkliche Bereicherung des Schulalltags”, mailt mir eine Mutter. „Die Kinder werden auf einer anderen Ebene an das Lesen heran geführt und haben die Möglichkeit wertfrei in die Welt der Geschichten einzutauchen. Mir persönlich ist dies sehr wichtig, da ich das Lesen als Zentrale der Sprachentwicklung sehe.”
Über solche Nachrichten freue ich mich natürlich sehr, vor allem da ich selbst oft gar nicht so weit denke. Ich selbst spüre die Spannung der Kinder, ihre aufmerksame Freude, ihren Spaß an den Geschichten. Ich höre ihre Hirne knistern, sehe ihre roten Backen. Und finde es toll, dass wir ein Großereignis wie die WM nicht einfach als gegeben hinnehmen, sondern uns hineinlesen, hineindenken, hinterfragen und uns informieren. Ein Ereignis wird zum Erlebnis, wenn man es nicht nur passiv annimmt, sondern aktiv mitmacht.
Am Ende basteln wir sogar ein bisschen an der Zukunft und lesen das WM-2014-Kinderbuch schlechthin, das kurz vor Anpfiff des Nationenfestes überhaupt erst spielt. Für uns, die wir uns seit Februar auf das Ereignis zubewegen fast schon eine Erlösung – endlich geht es wirklich los. Fabian Lenk, vor allem heiß begehrt für seine Bücher von den „Zeitdetektiven”, hat eine vierbändige Reihe bei Coppenrath unter dem Titel SAMBA-KICKER publiziert. Vier Kinder erleben hier Abenteuer zeitnah zur WM 2014 und mitten in Brasilien. In die spannende Geschichte des ersten Bandes „Aufruhr im Fußballstadion”, in dem es um das große und umstrittene Maracaná in Rio des Janeiro geht, ist viel Sachwissen rund um das Land und den heiß geliebten Sport eingeflochten. Die Kinder lauschen atemlos und berichten mir noch vor Ende der Lektüre, dass sie die Folgebände bereits zu hause geordert und bekommen haben. Die Kids sind heiß auf’s Lesen. Wie könnte es besser sein?
Juni 2014. Nun läuft die WM. Und unsere Lese-Werkstatt läuft ebenfalls, sogar noch ein paar Wochen über die Weltmeisterschaft hinaus. Die nächste Zeit wird bei uns nun gefüllt sein mit Tagesberichterstattungen, mit Jubel und ganz vielleicht auch mit Enttäuschung. Auf jeden Fall aber auch mit Sagenhaftem, Kulturellem, Geographischem, Botanischem, Kulinarischem und erneut Spannendem anhand des wunderschönen Brasilien-Reiseerzählbuchs für Kinder PINA REIST ZUM AMAZONAS der aus Rio stammenden Autorin Flávia Lins e Silva.
Das Tolle an Büchern ist eben: die Spannung und Vorfreude bleibt uns dank ihnen ewig erhalten, ganz egal, wie die eigene Mannschaft dieses Mal abscheidet. Das nächste Buch wartet mit Sicherheit.
Weshalb für Leser keine Neuigkeit, sondern eine Binsenweisheit ist: Nach dem Buch ist vor dem Buch.
Die Bilder zeigen die Kinder beim gemeinsamen Lesen von Eymard Toledos Bené-Buch und beim „Aufstellen zur Nationalhymne”. Die „Osternester” sind Materialtüten, um selbst Bilder im Stil von Eymard Toledo zu basteln, was dann an 2 Beispielen ebenfalls auf den Fotos zu sehen ist. Unsere selbst erstellte Mappe zum Thema ist abgebildet und ein Bild der gelesenen Bücher und Texte. (Fotos: Konstanze Keller)
Bücher, mit denen gearbeitet wurde:
- Hermann Schulz, Mandela und Nelson. Carlsen. Taschenbuch. ISBN 978-3-551-31227-3. 2. Aufl. 13. Ab 9 Jahren.
- Eymard Toledo, Bené, schneller als das schnellste Huhn. Baobab-Verlag. ISBN 978-3-905804-51-5. 2013. Ab 5 Jahren.
- Christian Eichler, Zuckerpass und Blutgrätsche. Wahre Geschichten rund um den Fußball. Klett Kinderbuch. ISBN 978-3-941411-25-8. 2010. Ab 9 Jahren.
- Fabian Lenk, Samba-Kicker, Bd. 1 Aufruhr im Fußballstadion. Coppenrath-Verlag. ISBN 978-3-649-61359-6. 2014. Ab 7 Jahren.
- Flávia lins e Silva, Pina reist zum Amazonas. Fischer KJB. ISBN 978-3-596-85597-1. 2013. Ab 9 Jahren.
Konstanze Keller, M. A. http://www.leseweis.de